An der Charente

Ein herrlicher Platz am Fluß und ein Sturz mit Folgen.

Auch die Rückreise ist eine Reise.

Aber ich steuere keine besonderen Ziele unterwegs mehr an. Es ist nicht nötig. Ich habe gelernt, Mutter Erde ist überall unglaublich schön. Es ist überhaupt nicht notwendig, Zwischenstationen zu planen, nach sehenswerten Orten zu suchen, landschaftlich besondere Routen rauszusuchen. Es reicht einfach zu fahren und wann immer ich müde werde, Finley Gassi muß oder Schönes am Wegrand liegt, anzuhalten. Egal wo, es werden sich gute Orte finden. Die Reise hat mich diesbezüglich in große Gelassenheit geführt.

Die berührendsten Orte waren sowieso nie die vermeintlichen Sehenswürdigkeiten.

Die stundenlange Fahrerei nervt mich. Lieber bin ich irgendwo als auf den Strecken dazwischen.

Aber wenn schon, dann wenigstens keine monotone Autobahn. Ich entscheide mich bewußt für die Route National. Dauert zwar länger, aber ich kann das Land besser spüren so.

Ich fahre täglich ein gutes Stück heimwärts, zwischen 200 und 300 km auf kürzestem Weg diagonal quer durch Frankreich. Und guck dann einfach mal, wo ich lande. Das paßt gut zum Ende dieser Reise, mich einfach einzulassen auf das, was ich vorfinde.

So erreiche ich ca. 300 km nordöstlich von St-Jean-de-Luz einen herrlichen kleinen Picknickplatz an der Charente.

Wow! Ein kleines Paradies!

Danke den Eltern der Schulkinder, die ich gefragt habe nach einem guten Schlafplatz und die mir den Tip gegeben haben. Und danke dem netten Vater und seinen beiden Söhne, die vorausgefahren sind und mich hierher geleitet haben.

Das ist ja mal ein perfekter Platz für uns drei.

Balthasar im Schatten alter Bäume, eine weiche Wiese mit Sonnenflecken für die Tiere und ein ruhig vorbeifließender Fluß. Gelegentlich kommen Enten oder ein Boot vorbei. Was für eine Idylle.

Wir stehen ganz allein direkt am Wasser. Am anderen Ufer ist eine Gaststätte und die Brücke rechts vom Picknickplatz führt in die kleine Stadt St. Simeux.

Wir gehen nicht weit Gassi. Die Luft ist drückend und schwül. Nur ein bißchen am Fluß entlang.

Es ist so heiß, daß sich sogar die Schweine im Gemüsebeet verstecken.

Ein Platz am Fluß ist jetzt ideal als Abkühlung.

Dann gehen wir eben abends, im Dunkeln noch ne Runde.

Leider gibt es hier keine Straßenbeleuchtung. Ich hab zwar die Taschenlampe mit, aber irgendwas muß ich auf der Brücke übersehen haben. Ich stolpere und schlage mit dem Kopf auf das Brückengeländer.

Das nächste, woran ich mich erinnere, ist Blut in meinem Auge. Ich bin offenbar schon wieder aufgestanden und taumele die Straße entlang. Im Licht der Taschenlampe sehe ich, daß viel Blut vom Gesicht auf mein Shirt fließt. Die Hände und Knie sind natürlich auch wieder aufgeschürft. Daran bin ich ja gewöhnt. Aber eine Kopfverletzung hatte ich noch nie. Das viele Blut versetzt mich in Panik.

Am anderen Ufer haben Leute vor ihrem Wochenendhaus offenbar etwas von meinem Sturz mitbekommen. Ich höre, wie sie sagen: „Da ist was passiert. Vielleicht ein Unfall.“ Ich erwarte, daß sie nachschauen, mir zu Hilfe kommen. Ich muß mich setzen. Nachdem sich nichts tut, keiner fragt oder kommt, rufe ich um Hilfe. Nichts und niemand. Also muß ich allein den Weg dorthin finden. Ich irre im unbekannten Dunkel auf der Brücke umher und finde keinen Weg hinunter. Die Böschung hinunter im Dunkeln und in meinem Zustand traue ich mich nicht. Ich muß offenbar der Straße bis zur nächsten Kreuzung folgen und dann über einen Parallelweg zurück zu dem Wochenendhaus und zur belebten Gaststätte gehen.

Als ich humpelnd am Wochenendhaus ankomme, sehe ich ca. 10 Personen grillen und essen. Ich bitte erneut um Hilfe. Auf Französisch. Ich bin sicher, daß ich gut zu verstehen bin. Und sie müssen doch sehen, daß das ein Notfall ist. Ich weiß, ich habe eine blutende Wunde im Gesicht. Aber sie wenden mir alle wortlos den Rücken zu und reagieren demonstrativ nicht auf mich. Ich bin sehr verblüfft.

Also muß ich noch weiter. Zur Gaststätte. Dort sind über 50 Leute und essen und trinken. Die Tische auf der Terrasse sind alle besetzt. Keiner reagiert. Im Inneren der Gaststätte ist ein Livekonzert. Es ist laut und voll. Ich kann mich nicht verständlich machen. Die Kellner sind sehr beschäftigt.  Wortlos weist mir einer den Weg zur Toilette.

Wenigstens kann ich mich säubern. Das Blut abwaschen und die Wunde untersuchen. Zum Glück, das Auge ist unverletzt.  Es ist eine Platzwunde zwischen Auge und Augenbraue. Sie schwillt gerade an. Daß so eine kleine Stelle so stark bluten kann…

Hier fühle ich mich alleingelassen und nicht gut aufgehoben. Gleichzeitig bin ich echt erstaunt, daß mir niemand hilft. Nur noch der Wunsch zurück zu Balthasar und mich ins Bett legen.  Langsam und vorsichtig humpel ich den Weg zurück über die Brücke ans andere Ufer.

Finley tut übrigens wie immer in solchen Situationen ziemlich unbeteiligt. Der ist echt kein Rettungshund. Missy dagegen weiß sofort Bescheid und schnuppert mich ab.

Ich bin echt unsicher und kann die Wunde am Auge nicht einschätzen. So eine Verletzung hatte ich  noch nie. Muß sowas genäht werden? Muß ich ins Krankenhaus?

Zum Glück bin ich wunderbar vernetzt und habe tolle Freunde. „Ist noch jemand wach? Ich brauche Rat.“ Ja, zwei Freunde sind wach und helfen mir.

Ich schicke Fotos, sie mir ihre Einschätzung.

Meine Freundin klärt sofort mit gezielten Fragen ab, ob ich eine Gehirnerschütterung oder ähnliches gaben könnte und sagt mir, worauf ich achten muß. Hups, an sowas hatte ich gar nicht gedacht. Danke für die Hinweise. Blutet es noch? Schwillt es weiter stark an? Ist dir übel? Ist dir schwindelig? Nein. Typischer Boxercut.

Vorsichtshalber raten sie doch zu einem Arzt. Auch damit die Wunde eine ästhetisch hübsche Narbe bekommt.

Just in dem Moment meldet sich Joelle aus Portugal. Supi. Sie recherchiert für mich. Das nächste Krankenhaus ist ca. 30 km entfernt in Angouleme. Sie erklärt mir, wohin ich mich dort wenden muß und wie so ein Krankenhaus in Frankreich organisiert ist. Gibt mir auch noch die Notfallnr.  15.

Tja, und dann kommt doch alles anders. Gerade als ich losfahren möchte, bricht der Kreislauf zusammen. Der Schock des Sturzes und des Aufschlags muß aus dem Körper. Die üblichen Krankheitssymptome folgen, mit denen mein Körper auf Erschütterungen reagiert. Ich kann nur noch liegen und beobachten.

Ich bin sehr sicher, daß ich keine ernsthafte innere Kopfverletzung habe, insbesondere keine Gehirnerschütterung, aber Ruhe brauche. Also entscheide ich mich abzuwarten.

Am nächsten Morgen fühle ich mich abgesehen von der Platzwunde, gesund. Dann wird die Wunde eben nicht geklebt, sondern heilt allein. Ich nutze Wasser aus Banneux und hoffe, daß sie sich dezent und möglichst unauffällig schließt.

Vorsichtshalber lege ich auf jeden Fall einen oder zwei Ruhetage ein. Ich will nicht riskieren, evtl. nicht fahrtüchtig zu sein.

In solchen Situationen ist es nicht leicht, allein unterwegs zu sein.

Aber ich bin echt dankbar für meinen tragfähigen sicheren Freundeskreis, auf den ich immer zählen kann.

Vormittags bin ich gut damit beschäftigt und abgelenkt, alle lieben besorgten Anrufe und Nachfragen zu beantworten.

Nachmittags spazieren Finley und ich langsam rüber nach St . Simeux.

Ein herrlich französisches Städtchen.

Pineau und Cognac werden hier in der Gegend hergestellt.

Es ist noch immer schwül, aber zieht sich zu. Das wird ein heftiges Gewitter geben.

„Komm, Finley, wir müssen zurück. Nein, nicht mehr rumschnuppern, ich meine es ernst.“ Aber vorsichtig. Bloß nicht noch einmal hinfallen jetzt.

Das ist ein Donnern und Grollen und Blitzen. In St. Simeux fallen bereits die ersten dicken Regentropfen, aber wir sind schon wieder auf der Brücke. Noch die Straße hinunter und dann rechts den Schotterweg zum Picknickplatz zurück. Achtsam und vorsichtig.

Supi gerade noch rechtzeitig geschafft. Kaum sind wir in Balthasar, kommt ein Starkregen runter. Ich halte Untergrund und Fluß im Blick, jederzeit bereit, das Wohnmobil zu versetzen, falls Gefahr droht. Vor Naturereignissen habe ich großen Respekt.

Finley auch. Er hört ja nicht mehr viel, die Anfänge bekommt er nicht mehr mit, aber als wir mitten im Gewitter sind, gerät er in Panik.  Seine Lösung in solchen Situationen: Flucht, rennen, rennen, rennen… Er springt wie wild im Womo rum und kratzt an der Tür.

Manchmal ist echt alles anstrengend…

Puh, das Gewitter läßt nach und scheint sich zu verziehen. Finley beruhigt sich. Der Untergrund ist nur wenig schlammig, der Fluß hat sich nicht verändert. Die Wunde am Auge blutet nicht und pocht auch nicht mehr so stark. Mein Kreislauf ist stabil.

Alles wieder ok, aber das waren mal echt unerwartet turbulente Tage hier an der ruhigen idyllischen Charente.

Sowas hatte ich für die Rückfahrt nicht eingeplant. Aber man kann das Leben sowieso nicht wirklich planen. Es ereignet sich.

 

 

 

 

 

 

 

4 Gedanken zu „An der Charente“

  1. Ohje. Ich bin erstaunt, dass niemand reagierte. Unglaublich. Keiner der fragt. Das schockiert mich. Ich bewundere Deine Ruhe und Dein Netzwerk und wünsche eine gute Rückreise und ein schönes Heimkommen

  2. Hallo liebe Eva,
    ich weiß, dass es eigentlich dumm ist dich auf diesem Weg zu fragen, ob bei dir alles in Ordnung ist. Velleicht bist du einfach nur auf dem.Rückweg und magst nicht mehr schreiben oder das Handy hat den Dienst quittiert, aber nach deiner letzten Geschichte würde ich mich freuen zu wissen, dass es dir gut geht. Ganz liebe Grüße aus der Heimat
    Anke Köster

    1. Liebe Anke,
      es ist alles ok.
      Bitte verzeih, ich habe nicht bedacht, daß sich jemand Sorgen macht.
      Ich hab auf der Rückreise nicht die Gelegenheit zum Schreiben gehabt. Und zuhause war ich erstmal mit so vielem anderen beschäftigt.
      Ich trage die Stationen der Rückreise nach.
      Danke für Deine Nachfrage. Das berührt mich sehr.
      Sei lieb umarmt.
      Eva

      1. Liebe Eva,
        Das freut mich zu hören. Willkommen zurück in der Heimat. Melde dich, wenn du Zeit und Lust auf einen Kaffee hast.
        Liebe Grüße Anke

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